The Epic Split: Warum B2B und Marke kein Gegensatz sein müssen
Zuletzt aktualisiert am 22. Dezember 2025 um 13:00 Uhr.2013 stellt sich Jean-Claude Van Damme im Morgengrauen zwischen zwei LKWs, fährt langsam in den Spagat und hält ihn, während die Fahrzeuge auseinanderdriften. Keine erklärende Stimme, kein Produkt-Pitch, kein technisches Detail steht im Vordergrund – und doch versteht jeder, worum es geht: absolute Kontrolle, Präzision, Vertrauen in die Technik. Volvo Trucks machte mit dem „Epic Split“ aus öder Nutzfahrzeugtechnik einen popkulturellen Moment und bewies, dass selbst hochkomplexe B2B-Produkte emotional aufgeladen werden können, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Das Missverständnis von Professionalität
Das Beispiel zeigt nicht nur, dass B2B kreativ sein kann, sondern auch, was passiert, wenn man sich traut, kulturelle Räume zu betreten, statt sich hinter Funktionsargumenten zu verstecken. Und trotzdem hält sich im B2B-Marketing hartnäckig die Vorstellung, dass Nüchternheit gleichbedeutend mit Professionalität sei und emotionale Inszenierung automatisch an Seriosität koste. Das Resultat ist eine Kommunikationslandschaft, die korrekt, aber leblos wirkt: blau, grau und weiß, technisch sauber, aber kulturell wirkungslos, argumentativ präzise jedoch kaum erinnerungsfähig. Man erklärt viel, sagt wenig und bleibt vor allem eines: austauschbar.
Die Ironie daran ist, dass genau jene Kampagnen, die heute als Referenzen gehandelt werden, diese vermeintlichen Regeln bewusst ignoriert haben – und gerade dadurch Vertrauen aufgebaut haben.
Aufmerksamkeit ist keine Kür mehr, sondern Voraussetzung
Dass kreative Brüche heute so stark an Bedeutung gewinnen, liegt nicht an einem modischen Zeitgeist, sondern an einer veränderten Realität. Entscheider bewegen sich in einem permanenten Strom aus Inhalten, Präsentationen, LinkedIn-Posts, Videos und Sales-Nachrichten. Aufmerksamkeit ist zur härtesten Währung geworden, und sie wird nicht durch die nächste sauber formulierte Nutzenargumentation gewonnen, sondern durch Relevanz, Überraschung und emotionale Andockpunkte.
Wer in diesem Umfeld nicht auffällt, wird nicht gehört. Und wer nicht gehört wird, spielt keine Rolle – unabhängig von Produktqualität oder Innovationsgrad.
Kreativität scheitert selten an Ideen, sondern an Strukturen
Gerade im B2B liegt das Problem selten im fehlenden Gespür für gute Kommunikation. Viele Marketingverantwortliche konsumieren privat starke Kampagnen, verstehen kulturelle Referenzen und erkennen sofort, wenn eine Idee Potenzial hat. Im Unternehmenskontext treffen diese Impulse jedoch auf Brand-Guidelines, Freigabeschleifen und eine tief sitzende Angst davor, mit ungewöhnlichen Ansätzen anzuecken. Kreativität wird nicht offen abgelehnt, sondern schrittweise entschärft, bis sie niemanden mehr stört – und genau deshalb auch niemanden mehr interessiert.
Warum Erklären zu spät kommt
Ein weiterer verbreiteter Irrtum im B2B besteht darin, Kommunikation mit Erklärung zu beginnen. Doch jede Customer Journey startet mit einem Impuls, nicht mit Tiefe. In der frühen Phase geht es nicht um Features oder technische Details, sondern um Resonanz. Erst wenn Neugier geweckt ist, entsteht die Bereitschaft, sich mit komplexen Inhalten auseinanderzusetzen. Ohne diesen emotionalen Einstieg bleibt selbst das beste Whitepaper ungelesen.
Emotion und Rationalität schließen sich dabei nicht aus, sondern bedingen einander. Auch im B2B treffen Menschen Entscheidungen – Menschen mit Vorlieben, Erinnerungen, ästhetischen Ansprüchen und kulturellen Prägungen. Marken, die diese Dimension ignorieren, kommunizieren nur auf halber Strecke. Emotion ist kein Ersatz für Substanz, sondern der Mechanismus, der Substanz überhaupt erst zugänglich macht.
Medienbiografien als unterschätzter Hebel
Dass Van Damme funktioniert, liegt nicht an seiner Prominenz allein, sondern an seiner kulturellen Bedeutung. Er steht für eine Generation, die heute in Entscheidungspositionen sitzt. Diese Kampagne adressierte keine abstrakten Zielgruppenmodelle, sondern konkrete Medienbiografien – mit Bildern, Sounds und Erinnerungen, die sofort Resonanz erzeugten. Genau darin liegt ihre strategische Stärke.
Ästhetik ist kein Dekor, sondern Haltung
Ein ähnlicher Wandel zeigt sich zunehmend auch in Bereichen wie Manufacturing, Software, Education oder Consulting. Design, Kunst und Inszenierung werden gezielt eingesetzt, um Innovationsgeist und Haltung sichtbar zu machen. Nicht als Spielerei, sondern als strategisches Signal: Diese Marke denkt weiter als bis zur nächsten Feature-Liste.
Wenn kulturelle Präzision Budget ersetzt: Teenage Engineering und der OP-XY
Dass kreative Differenzierung nicht an große Budgets gebunden ist, zeigt kaum ein Beispiel so klar wie die Einführung des OP-XY von Teenage Engineering im Jahr 2024, ein Musikproduktionstool, das eher an einen Taschenrechner erinnert als an ein Instrument. Statt das neue Gerät über technische Spezifikationen, Featurelisten oder Leistungsversprechen zu erklären, entschied sich das Unternehmen für einen radikal reduzierten, ästhetisch hochpräzisen Zugang, der sich konsequent an der kulturellen Lebenswelt der Zielgruppe orientierte.

Der OP-XY selbst tritt als monochromes, fast sprödes Objekt auf, das bewusst Assoziationen an„German Design“ und „German Engineering“ weckt, wie sie auch gern in Interviews mit den Produktmanagern bemüht werden. Die begleitenden Videos und Visuals verstärken diesen Eindruck: Zwei Tänzer bewegen sich mit kühlem Blick in einer streng geometrischen, grafisch reduzierten Umgebung zu einem kalten, treibenden 80er-Technosound, der unüberhörbar an die Ästhetik von Gabi Delgados DAF und frühe elektronische Musik aus dem deutschsprachigen Raum erinnert. Es entsteht eine Bild- und Klangwelt, die weniger erklärt als behauptet – und gerade dadurch wirkt.
Entscheidend ist dabei, dass die Kampagne nicht versucht, das Produkt zu popularisieren oder zu vereinfachen. Im Gegenteil: Sie setzt auf kulturelle Codierung und ein implizites Einverständnis mit der Zielgruppe. Wer diese Referenzen erkennt, fühlt sich nicht belehrt, sondern angesprochen. Wer sie nicht erkennt, versteht zumindest, dass hier eine klare Haltung kommuniziert wird. Der OP-XY wird nicht als Tool inszeniert, sondern als kulturelles Artefakt – als Objekt für Menschen, die sich über Design, Musik und Reduktion definieren.
Genau darin liegt die strategische Stärke der Kampagne. Teenage Engineering verzichtet bewusst auf Reichweite um jeden Preis und setzt stattdessen auf Anschlussfähigkeit innerhalb eines klar umrissenen kulturellen Milieus. Die Marke positioniert sich nicht über Lautstärke oder Prominenz, sondern über ästhetische Konsequenz und kulturelle Präzision. Das Ergebnis ist keine kurzfristige Aufmerksamkeitsspitze, sondern eine nachhaltige Verankerung als design- und kulturgetriebener Akteur an der Schnittstelle von Technologie, Musik und Industrieästhetik.
Warum viele Unternehmen trotzdem zögern
Trotz dieser Beispiele bleiben viele Unternehmen vorsichtig. Budgetdruck, Unsicherheit über Wirkung, Angst vor Ablehnung und schlechte Erfahrungen mit Agenturen führen dazu, dass man lieber beim Bewährten bleibt – selbst wenn dieses Bewährte längst keine Wirkung mehr entfaltet. Doch kreative B2B-Kommunikation braucht keine Abenteuerlust, sondern Struktur, klare Ziele und Partner, die Kreativität mit unternehmerischem Denken verbinden.
Der Weg aus der Austauschbarkeit
Der erste Schritt aus der Beliebigkeit ist keine neue Kampagne, sondern eine ehrliche Analyse: Welche kulturellen Codes prägen die Zielgruppe, welche visuellen Sprachen sprechen sie an, welche Narrative erzeugen Aufmerksamkeit und Sympathie? Auf dieser Basis entstehen Kommunikationskonzepte, die überraschen, ohne beliebig zu sein, und emotionalisieren, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
B2B darf alles – außer egal sein
Der „Epic Split“ und die „German Musikbox“ stehen exemplarisch für eine einfache Wahrheit: B2B-Marketing muss nicht leise, grau oder erklärlastig sein. Es muss relevant sein. Relevanz entsteht dort, wo Marken aufhören, sich hinter Rationalität zu verstecken, und beginnen, sich als Teil einer lebendigen, kulturell geprägten Welt zu begreifen. Wer erinnert wird, wird gewählt. Alles andere ist saubere Kommunikation ohne Wirkung.
Gerrit Grunert
Gerrit Grunert ist Gründer und CEO von Crispy Content®. 2019 veröffentlichter er das bei Springer Gabler erschienene Standard-Werk "Methodisches Content Marketing" sowie die Online-Kurs-Serie "Making Content". Privat ist Gerrit ein leidenschaftlicher Gitarren-Sammler, liest gern Bücher von Stefan Zweig und hört Musik von vorgestern.
